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Zwei Äpfel hängen an einem Baum auf einer Streuobstwiese.

„Streuobst. Vom Geschmack einer Landschaft“ – Im Gespräch mit Andreas Geiger

Alte Obstgärten, seltene Sorten und eine jahrhundertealte Kulturlandschaft – in seinem Buch „Streuobst. Vom Geschmack einer Landschaft“ nimmt Andreas Geiger die Leser mit auf eine Reise zu scheinbar längst vergessenen Genusserlebnissen. prisma spricht mit dem Autor über die Entstehung des Buches, seine Verbindung zur Region und die Bedeutung dieser besonderen Natur- und Kulturräume – und hat zum Schluss noch einen ganz besonderen Veranstaltungstipp für den 20. Februar in petto.
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Ein Buch über Kultur und Genuss

In seinem Buch „Streuobst. Vom Geschmack einer Landschaft“ nimmt Andreas Geiger die Leser mit auf eine Entdeckungsreise durch die Jahreszeiten in die faszinierende Welt der Streuobstwiesen. Er erzählt von alten Obstgärten, tief verwurzelt in der Geschichte der Region, die einzigartige Früchte hervorbringen – darunter der Holzapfel, die Nägeles Birne und die Champagner-Bratbirne.

Gemeinsam mit dem Obstbauer und Koch Jörg Geiger* erforscht der Autor die Bedeutung dieser alten Sorten und zeigt, warum ihr Erhalt von entscheidender Bedeutung ist. Dabei fließt viel Wissen über Baumpflege, Bodenverbesserung und traditionelle Obstkulturen ein – eine lebendige Mischung aus historischen Einblicken, persönlichen Erlebnissen und der Leidenschaft für eine jahrhundertealte Kulturlandschaft.

Auch wenn beide den Nachnamen Geiger tragen, sind sie nicht miteinander verwandt – was in dieser Gegend nichts Ungewöhnliches ist. Entlang der Schwäbischen Alb gibt es viele Geigers, doch für ihre Zusammenarbeit spielt das keine Rolle.

Ein Apfelbaum mit strahlend roten Äpfeln im Winter.
Eine Streuobstwiese im Winter, Foto: Manufaktur Jörg Geiger.

Im Gespräch mit Andreas Geiger​

Andreas Geiger ist Filmregisseur und Drehbuchautor. Wie er jedoch zum Schreiben eines erzählerischen Sachbuchs über Streuobstwiesen fand, welche Herausforderungen ihn dabei begleiteten und was er unter dem Begriff Heimat versteht, verrät er uns im exklusiven Interview.

Vom Film zum Buch – Erzählungen in Bildern und Worten​

Zuerst einmal herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Interview nehmen. Eigentlich kommen Sie aus der Filmbranche und haben nun mit „Streuobst“ Ihr erstes Buch geschrieben. Im ersten Kapitel beschreiben Sie eine atmosphärische und stimmungsvolle Begegnung mit Jörg Geiger. War das der Moment, in dem die Idee für das Buch entstand?

Nein, die Szene, wie ich an einem trostlosen Wintertag mit dem Mountainbike Jörg Geiger beim Baumschneiden treffe, ist erstunken und erlogen. Das Buch entstand bei einem Brainstorming-Treffen mit Annette Rieger, einer guten Freundin und Programmleiterin des 8 grad  verlags in Freiburg, die, als es darum ging, wer zu diesem Thema das Buch schreiben könnte, zu mir meinte: „Schreib du doch das Buch selber.“ Und weil ich schon durch Filme über die Manufaktur Jörg Geiger und schwäbisches Wiesenobst für den SWR im Thema drin war und selber eine Obstwiese geerbt hatte, fand ich auch, dass ich der Richtige dafür bin.

Asphaltierter Weg zwischen schneebedeckten Feldern mit vereinzelten Bäumen, rechts eingezäunte Holzstapel und ein grüner Traktor, im Hintergrund sanfte Hügel mit kahlen Bäumen unter grauem Himmel.
Unterwegs mit dem Mountainbike sammelt Andreas Geiger wertvolle Eindrücke für seine Arbeit, Foto: Enric Duch.

Neben den Filmen über die Manufaktur Jörg Geiger sind Sie vor allem für Ihre Dokumentarfilme „Die Gabe zu Heilen“, „Wochenendkrieger“ und „Heavy Metal auf dem Lande“ bekannt. Wie unterscheidet sich für Sie das Erzählen in Film und Buch?“

Beim Dokumentarfilm sammelt man Szenen, die man bei der Montage zu einer durchgehenden Geschichte zusammenbaut. Es gibt auch nicht wirklich ein Drehbuch, eher eine Wunschliste.

Als mich Annette Rieger dann gefragt hat, ob ich nicht ein Buch zum Thema Streuobst schreiben möchte, da kam bei mir schon der Gedanke: Wie schreibt man denn ein ganzes Buch?

Ich bin dann einfach so vorgegangen, als wäre dieses Buch ein Film. Ich habe Szene für Szene geschrieben, teilweise konnte ich mich an den Interviews orientieren, die ich bereits mit Jörg Geiger geführt hatte, und ich habe auch viel in meinen Erinnerungen gekramt, wie die Geschichte mit der Obstwiese hinter dem Bauernhof meiner Oma, die später zum Bauplatz wurde.

Diese ganze Szenensammlung habe ich dann als Kärtchen an die Wand gehängt und versucht, einen logischen und auch emotionalen Bogen zu schaffen. Es war schnell klar, dass ich im Laufe der Jahreszeiten erzählen werde, dass ich die Kulturgeschichte des Obstanbaus parallel dazu von seinen Anfängen bis heute erzählen werde. Und meine Erkenntnisse, die ich beim Mountainbiken durch die Streuobstlandschaften hatte, wurden auch noch mit hinein gestrickt.

Im Grunde habe ich mich einfach an eine Filmdramaturgie gehalten. Aber bei so einem Buch ist Logik und Kontinuität nicht unbedingt so wichtig wie bei einem Film.

Gab es dann beim Schreiben und bei der Umsetzung des Buches besondere Herausforderungen, insbesondere in Bezug auf den Stil, den Sie für das Thema gewählt haben?

Ich hatte mir schon zum Ziel gesetzt, ein richtiges Buch im Stil des englischen Nature Writing zu schreiben. Ich wollte weder ein Sachbuch im Stil von „Was blüht denn da?“ noch zu poetisch daherkommen wie ein Rilke-Gedicht. Also einen Spagat finden zwischen faktischem und emotionalem Wahrnehmen. Das, was mir eben bei meinen Nature Writing-Lieblingsbüchern auch so gefällt: Erwachsene Männer, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, aber den Mut haben, über ihre Gefühle zur Natur, der eigenen Identität und dem sinnlichen Erleben von Natur zu schreiben.

Die Schwäbische Alb als Quelle der Inspiration

Ihr Buch vermittelt eine Mischung aus Melancholie und Faszination für die Landschaft. Empfinden Sie Ihre Heimat eher als verlorenen oder als wiederentdeckten Ort?

Zunächst muss man etwas ja erst verlieren, damit man es wiederentdecken kann. Ich glaube, man muss einmal vom Gewohnten weggehen, um es anschließend mit anderen Augen sehen zu können. Das ist ganz wichtig, angesichts von Betriebsblindheit und der Fehlbewertung des Altbekannten. Ich jedenfalls musste erst mal anderswo leben, um dann die Qualitäten unserer Landschaft, aber auch mittelgroßer Städte wie Göppingen, schätzen zu lernen.

Aber diese Landschaft hier ist wirklich einmalig: Wenn man es schafft, die Sehnsuchtsbilder, die man sich immer im Urlaub erträumt, auch hier zu sehen, dann kann die Schwäbische Alb mit jeder Toskana und sogar mit Palmenstränden mithalten. Man muss halt nur die Birnenbäume wie Palmen ansehen.

Und wenn wir auf unsere Landschaften aufpassen und sie nicht agrartechnisch versauen, dann kommen in 50 Jahren italienische Touristen zu uns, um hier Urlaub zu machen.

Nebliger Blick auf die schwäbische Alb
Manchmal zeigt sich die Schönheit der Schwäbischen Alb erst auf den zweiten Blick, Foto: Enric Duch.

Ihre Begeisterung für die Schwäbische Alb und ihre landschaftlichen Qualitäten ist wirklich spürbar, und die Verbindung von Sehnsucht, Entdeckung und der Bewahrung von Traditionen zieht sich durch Ihre Werke. Welche Rolle spielt ‚Heimat‘ dabei in Ihrer Arbeit?

Der Begriff ‚Heimat‘ wird ja meistens von den Leuten in Anspruch genommen, denen die eigentlichen Werte von Heimat gar nicht bewusst sind und die im Grunde ziemlich heimatlose Interessen haben. Ich habe immer versucht, mit dem Begriff locker umzugehen. Vielleicht geht es eher um Identität, und darum, den Begriff ‚Heimat‘ immer wieder neu und anders zu denken. Ich beschäftige mich jedenfalls gern mit Heimat, weil man mit diesem Begriff auch solche Leute ansprechen kann, die sonst nicht so viel über das Leben nachdenken oder eben falsche Rückschlüsse aus Heimatverbundenheit ziehen.

Auf dem Buchrücken steht: ‚… gedeihen an schiefen Storren eigenwillige Früchte …‘. Diesen Begriff haben wir noch nie gehört, und das hat unsere Neugier geweckt! Woher stammt er, und gibt es eine Geschichte, die dahintersteckt?

Das ist lokale schwäbische Eingeborenensprache. So hat meine Oma immer die großen, alten Apfel- und Birnbäume genannt, die bei uns immer noch zahlreich herumstehen. Sie sind oft krumm gewachsen, als ob sie sich verrenkt hätten, und trotzdem schaffen sie es, mit dieser Schiefheit und Überalterung zu leben.

Alte Obstsorten, neue Chancen – Schiefe Storren brauchen mehr Marketing

Da wir nun bei den alten Obstbäumen und ihren Eigenheiten sind, kommen wir auch schon zur letzten Frage: Wie bewerten Sie die heutige Wertschätzung für regionale Obstsorten? Gibt es ein Umdenken, oder gerät das Wissen weiterhin in Vergessenheit?

Es gibt ja so eine Regel, dass die Menschheit immer dann anfängt, sich für etwas zu interessieren, wenn es am Verschwinden ist. Ich denke schon, dass vielen Menschen bewusst ist, dass die noch zahlreichen alten Bäume, die sie täglich beim Autofahren in der Landschaft sehen, demnächst verschwunden sein werden. Das hat viele Ursachen wie Ökonomie, Eigentumsverhältnisse, Klimawandel, Neubaugebiete etc.

Ich finde den Ansatz der Manufaktur Jörg Geiger, aus alten Wiesenobstsorten mit der Säure der Äpfel und den Gerbstoffen der Mostbirnen neue, attraktive Produkte zu machen, sehr spannend. Aber ich habe auch viele andere Menschen mit einem Interesse für die süddeutsche Obstkultur und unser Landschaftsbild kennengelernt – sogar einen Immobilienfachmann einer süddeutschen Kreissparkasse, der eine alte Obstwiese gekauft hat und sie wiederbeleben möchte. Karma-technisch ist so eine schwäbische Obstwiese auf jeden Fall ein Pluspunkt.

Ich will also gar nicht in eine Art „Rettet die Obstwiesen!“-Gejammer verfallen, aber ich denke, man sollte die positiven Aspekte unserer Streuobstlandschaft und die Qualitäten dieser alten Sorten einfach besser kommunizieren. Wiesenobst enthält mehr gesundheitsfördernde Stoffe als Supermarktäpfel, Obstwiesen sind biologische Paradiese, sie sind für Familien und Liebespaare ideale Orte, und die Obstkultur ist Teil unseres kulturellen Erbes – und damit unserer Identität, womit wir wieder am Anfang unseres Gesprächs wären.

Man könnte es also auch so sagen: Diese schiefen Storren brauchen mehr Marketing.

Großer, verzweigter Baum auf einer grünen Wiese in der Abendsonne, umgeben von weiteren Bäumen, mit sanften Hügeln im Hintergrund.
Manche Streuobstwiesen mit altem Bestand erinnern an frühere Hutewälder, Foto: Manufaktur Jörg Geiger.

prisma bedankt sich herzlich bei Andreas Geiger für das spannende Gespräch und seine Zeit.
Ein besonderer Dank geht auch an Annette Rieger vom 8 grad verlag für die großartige Unterstützung!

Blick in die Barbarossa-Buchhandlung in Göppingen.
Blick in die Barbarossa-Buchhandlung, Foto: Ralph Schöllkopf.

Lesung und Verkostung in der Barbarossa-Buchhandlung

Wenn Sie nun auf den Geschmack gekommen sind und mehr über Streuobstwiesen erfahren möchten, hat prisma noch einen Tipp für Sie:

VOM GESCHMACK EINER LANDSCHAFT
Lesung und Verkostung mit Andreas Geiger

Datum: Donnerstag, 20. Februar 2025
Uhrzeit: 19:00 Uhr
Adresse: Barbarossa-Buchhandlung
Marstallstraße 3, 73033 Göppingen
Eintritt: 12,- Euro

Andreas Geiger erzählt an diesem Abend in der Barbarossa-Buchhandlung von der Faszination der Streuobstwiese und eigenwilligen Früchten wie Holzapfel, Nägeles Birne oder der Champagner-Bratbirne. Begleitet wird der Abend von einer Prisecco-Verkostung aus der Manufaktur Jörg Geiger.

Streuobst. Vom Geschmack einer Landschaft

Cover des Buches "Streuobst. Es zeigt einen gezeichneten gelb-roten Apfel mit weißen Apfelblüten und einem grünen Blatt.

Das Buch ist seit dem 23.09.2024 erhältlich. Weitere Details und Bestellmöglichkeiten finden Sie auf 8gradverlag.de.

Portraitaufnahmen von Andreas Geiger
Andreas Geiger

Andreas Geiger, Jahrgang 1969, lebt in Stuttgart und Donzdorf. Er hat an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und bewegt sich in seinen Dokumentarfilmen (Heavy Metal auf dem Lande, Die Gabe zu heilen) im Spannungsfeld zwischen Heimatkunde und Popkultur. Streuobst ist sein erstes Buch.

Titelbild: Manufaktur Jörg Geiger
Autorenporträt: Enric Duch

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